Späte Erleuchtung – Steffi oder Jens?

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4. Steffi oder Jens?

Nach meiner Konfirmation trafen wir (unsere Konfirmandengruppe) uns regelmäßig in den Jugendräumen der Kirchengemeinde – ich war jetzt 15, fast 16. Im Keller des Gemeindehauses gab es einen Clubraum, der auch zur Disco umgestaltet werden konnte. Außerdem war da ein noch ein Gemeinschaftsraum mit Tischen uns Stühlen, in dem wir auch unseren Konfirmandenunterricht hatten, sowie im Vorraum diverse Tischkicker- und andere Freizeitgeräte. Hinter dem Gemeindehaus lag ein großer Garten mit einem Spielplatz, der hauptsächlich vom angrenzenden Kindergarten genutzt wurde. Um die Disco nutzen zu dürfen, musste man „erwachsen“ sein – das war eine eiserne Regel. „Kinder“ durften dort nicht hinein, und „erwachsen“ war man erst, wenn man die Konfirmation hinter sich hatte. Jetzt war es also endlich so weit: es begann das erste richtige miteinander tanzen (oder nennen wir es lieber gegenseitig auf die Füße treten?) und kuscheln beim Klammerblues. Bunte, sich drehende Lampen erleuchteten den Raum nur spärlich, aber immer genug, dass man noch etwas (oder Jemanden) erkennen konnte. Meine damalige Freundin hieß Steffi, wir gingen schon seit drei Monaten miteinander. Aber zusammen geschlafen hatten wir noch nicht – wir waren noch zu jung, und es hätte bestimmt Ärger gegeben. Hand in Hand oder Arm in Arm betraten und verließen wir das Gemeindehaus – anders kannte man es von uns nicht. Niemand im Club zweifelte daran, dass wir zusammen gehören.
Doch eines Tages sah ich Jens – nicht, dass ich ihn nicht schon vorher gesehen hatte, wir kannten uns gut aus der Gemeinde – aber ich sah ihn plötzlich mit anderen Augen. Steffi war mit ihren Eltern in den Urlaub gefahren, aber das hielt mich nicht davon ab, trotzdem alleine in den Club zu gehen. Jens lehnte gelangweilt an der Eingangstür zum Gemeindehaus; scheinbar war er sich nicht so ganz schlüssig, ob er hineingehen sollte oder nicht. Er war schon beinahe 17 und ein Einzelgänger – auch eine Freundin hatte er nicht. „Hi, kommste mit rein?“ Er schüttelte nur den Kopf. Doch dann fiel ihm wohl auf, dass auch ich allein war. „Wo ist Steffi?“ fragte er mich. „Mit ihren Eltern in Spanien“ antwortete ich. „Warum willste denn nicht mit rein? Na, komm schon!“ Ich packte ihn am Handgelenk, und zog in mit ins Haus. Jens versuchte zu meiner Überraschung nicht, sich loszureißen, sondern folgte mir die Treppe hinunter. Die Musik aus dem Clubraum wurde immer lauter. Wir gingen an die kleine Theke, und bestellten uns eine Cola (alkoholische Getränke gab es hier selbstverständlich nicht, auch nicht für die Älteren). Dann setzten wir uns auf eines der Sofas, und schauten den Anderen beim Tanzen zu. Wir unterhielten uns über den Club, die Leute, die hier hinkamen, und die Musik, die aus den Boxen dröhnte.
Plötzlich sah er mich an – mit einem so durchdringenden Blick, dass es mir für einen Moment den Atem nahm. Dann sagte er unvermittelt und ohne irgendwelche einleitenden Worte: „Ich bin schwul!“ Wie bitte?? Warum sagt er ausgerechnet mir das? Aber natürlich erklärte das auch, warum er im Gegensatz zu uns anderen keine Freundin hatte. Jens deutete mit dem Kopf zur Tür: „Lass uns rausgehen, hier ist es so laut!“ Wir gingen nach hinten in den Garten, er setzte sich auf eine der Schaukeln und wippte ein wenig hin und her. Ich stand nur da und wartete, was nun kommen würde. Quälend viele, schweigsame Minuten folgten, bis er endlich aufstand, meine Hand nahm und leise sagte: „Ich muss Dir noch etwas gestehen – ich glaube, ich habe mich in Dich verliebt!“ Peng!! Der saß! Ein Schlag ins Kontor! Alles drehte sich in mir. Aber ich war doch mit Steffi zusammen – und er wusste es auch!? Das musste ich jetzt erstmal verdauen; mit einem Jungen etwas anzufangen, war seit der kleinen Episode mit Lutz im Zelt für mich eigentlich kein Thema mehr – doch Jens brachte mich ins Schwanken. Er schaute mir ganz fest in die Augen – auch meine Hand hatte er noch nicht losgelassen; aber ich zog sie auch nicht zurück. Trotzdem musste er wohl meinen erschrockenen Blick richtig gedeutet haben. „Ich wollte es Dir schon länger sagen, aber Steffi war ja immer bei Dir“ fügte er in einem beinahe traurigen Ton hinzu. Eher vorsichtig fragte er mich: „Hast Du schon mal mit einem Jungen…?“ Ich schüttelte den Kopf – obwohl es ja eigentlich fast gelogen war. „Nicht so richtig; nur mit der Hand“, versuchte ich mich zu erklären. Dann wieder Schweigen. Wir sahen uns nur an – mein Blick in seine blauen Augen schien ins Unendliche zu führen. „Bitte entschuldige, ich habe Dich jetzt wohl ziemlich geschockt.“ meinte er dann, mit einem noch etwas traurigeren Unterton als zuvor. „Aber ich musste es Dir einfach sagen – und jetzt, wo Steffi nicht dabei ist, war für mich endlich die Gelegenheit. Ich weiß, dass Du Steffi sehr lieb hast – aber ich habe Dich auch lieb!“ Schlagartig drehte Jens sich um, ohne ein weiteres Wort, und lief davon. Ganz am anderen Ende des Gartens hockte er nun, an einen Baumstamm gelehnt, und ich sah, dass er weinte. Auch wenn meine Gedanken und Gefühle gerade Karussell fuhren, konnte ich diesen Anblick doch nicht ertragen. Ich ging wieder zu ihm, und nahm ihn in meine Arme. Jens vergrub sein Gesicht an meiner Schulter; nun kam es erst so richtig aus ihm heraus. Endlich beruhigte er sich ein Wenig, sah mit verheulten Augen zu mir auf und gab mir einen zarten Kuss auf die Wange, während ich ihm über den Rücken streichelte. „Lass uns wenigstens Freunde sein, ja?“ bat er mich mit brüchiger Stimme. „Ja, na klar.“ antwortete ich ihm.
Doch es sollte anders kommen…. Einige Tage später sahen wir uns in der Stadt; Jens kam gerade freudestrahlend aus dem Kaufhaus – er hatte sich von seinem Lehrgeld einen Commodore 64 gekauft. „Booah, was hast Du denn da? Hey, toll!“ Stolz zeigte er mir seinen neuen Computer und die Spiele. „Kannst ja gerne mal zu mir kommen, dann können wir zusammen was spielen!“ „Ja, gerne! Wir sehen uns doch morgen Abend im Club, oder? Dann können wir uns verabreden.“ „Das machen wir!“ Jens ging weiter zu einem parkenden Auto, lud den Rechner in den Kofferraum und stieg auf der Beifahrerseite ein. Auf dem Fahrersitz saß vermutlich sein Vater. Der Motor startete, und der Wagen fuhr weg. Am nächsten Abend im Jugendclub – Steffi war noch immer in den Ferien – interessierten mich eigentlich die Computerspiele mehr als die Disco. „Hast du ihn schon angeschlossen?“ stürzte ich fragend auf Jens los, gleich als ich ihn sah. „Na klar – und auch schon ausprobiert! Hast Du morgen Zeit?“ „Ja, gleich nach der Schule kann ich rüberkommen!“ Ich hatte im Telefonbuch nachgeschaut, und stellte fest, dass er nur drei Straßen weiter wohnte. Also ein Katzensprung… „Weißt Du denn, wo ich wohne?“ Ich grinste breit. Wozu gibt’s denn Telefonbücher?“ Jens lachte. „Na dann… morgen so gegen drei? Ich hab nur morgens Berufsschule.“

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