Späte Erleuchtung – In der Düne

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5. In der Düne

Tommi und ich unternahmen noch viel miteinander. In einer wieder einmal sehr drückend- warmen Sommernacht, kurz vor dem Ende der zweiten Woche, waren wir besonders mutig; im Zelt konnte man es kaum aushalten, und wir konnten nicht schlafen (zwischenzeitlich waren wir in unser selbst errichtetes Zeltlager umgezogen). Toms Feldbett stand direkt neben meinem, nur eine kleine Lücke war dazwischen. „Tom –bist du noch wach?“ flüsterte ich und stupste ihn an. „Ja“, kam es sofort zurück. „Kommst Du mit?“ „Wohin?“ „Erstmal raus hier!“ So leise es nur ging, versuchten wir aufzustehen – mein Feldbett knarrte. Doch niemand sonst rührte sich. Auf Zehenspitzen schlichen wir aus dem Zelt. Der über uns stehende Halbmond leuchtete hell. Dann rannten wir los – Richtung Dünen. Als wir sicher waren, dass uns keiner mehr sehen konnte, ließen wir uns – nach Atem ringend – in den weichen, warmen Sand fallen. Außer unseren kurzen Schlafhosen hatten wir nichts an. Nebeneinander auf dem Rücken liegend, betrachteten wir den Himmel; die Sterne funkelten und der Mond schien genau auf uns zu leuchten. Fast gleichzeitig, wie auf ein Kommando, hoben wir den Po an und streiften unsere Hosen ab. Ich tastete zur Seite, und nahm Tommis Hand in meine. Er drehte seine Hand ein wenig – unsere Finger verschränkten sich ineinander. Ganz eng waren wir aneinander gerutscht, und unsere Arme, Hüften und Beine schmiegten sich gegen den Anderen. Selbst unsere Füße spielten miteinander… So lagen wir nur schweigend da, sahen hin und wieder zueinander hinüber und grinsten. Es war einfach nur ein tolles Gefühl, zusammen mit meinem allerbesten Freund, aber dafür ohne ein Stück Stoff auf der Haut, hier zu liegen, Hand in Hand, und in den Himmel zu sehen.
„Na Jungs, was macht ihr denn hier?“ Wir schraken zusammen – über unseren Köpfen stand Peer; ein breites Grinsen durchzog sein Gesicht, als er uns so sah – barfuss bis zum Hals und eng nebeneinander. Peer hatte Nachtwache – im Nachhinein waren wir heilfroh, dass er es war, der uns fand, und kein anderer unserer Betreuer. „Wir…, wir…“ stammelte Tommi. „…konnten nicht schlafen“, versuchte ich, den Satz zu vollenden. „Und ihr seid so richtig echte Freunde, wie ich sehe“; Peers Grinsen wurde noch ein Stück breiter. Mal gut, dass es trotz des Mondes recht dunkel war, denn ich glaube, wir bekamen beide leuchtend rote Köpfe. Inzwischen waren wir ein Stück auseinander gerutscht und hatten wir uns aufgesetzt – und Peer ließ sich neben uns in den Sand plumpsen. Auf die Idee, unsere Hosen wieder anzuziehen, kamen wir nicht. Peer schaute uns nur an – von oben nach unten und wieder zurück; wir kamen uns vor wie kleine Kinder, die beim Schokolade klauen erwischt worden waren. Jeden Moment erwarteten wir eigentlich, dass Peer mit uns schimpfen würde – es war schließlich mitten in der Nacht – und wir lagen nicht, wie es hätte sein sollen, im Bett, sondern hier nackt in der Düne. Es geschah nichts – stattdessen begann er ein wenig von sich zu erzählen; es wurde eine Art ganz privater „Aufklärungsunterricht“. Wir waren gerade mal knappe 13 Jahre alt!
„Ihr wisst, was „schwul“ bedeutet?“ fragte er uns. Verschämt nickten wir. „Schwul ist, wenn ein Junge einen Jungen oder ein Mann einen Mann liebt“, erklärte er es uns trotzdem noch einmal. „Ich bin schwul, und ich habe fast zwanzig Jahre mit meinem Freund zusammengelebt – natürlich zuerst heimlich. Wir haben acht lange Jahre gebraucht, bis wir kein Geheimnis mehr daraus machen wollten, und wohnten danach auch zusammen. Damals lebten wir beide noch auf dem Festland – er in Oldenburg, ich in Leer. Kennen gelernt haben wir uns mit 15 oder16 – auf einer ähnlichen Ferienfreizeit wie ihr sie gerade macht. Wir mochten uns auf Anhieb – und wurden allerbeste Freunde, so wie ihr jetzt.“ Er hielt einen Moment inne – Tommi und ich saßen mit offenem Mund da und hörten ihm gespannt zu. „Als wir erwachsen waren, zog es uns immer wieder im Urlaub auf diese Insel – mit 28 lernte ich Johannes, Euren Heimleiter hier, kennen“, erzählte er weiter.„Johannes war eigentlich Pfarrer, aber die Arbeit mit Jungs wie Euch machte ihm einfach mehr Spaß, als auf der Kanzel zu stehen. Darum gründete er dieses Jugendheim, und schloss sich dem CVJM an. Johannes hatte – im Gegensatz zu den meisten Inselbewohnern, für die schwul sein eine Sünde und gegen den Willen Gottes ist, kein Problem mit uns – und das tat uns gut.“ Wieder machte Peer eine Pause. Unsere Blicke hingen an seinen Lippen. „Wir halfen ihm von Anfang an – beim Aufbau, beim Möbelschleppen und bei der Einrichtung des Hauses. Dafür durften wir hier übernachten, und bekamen leckeres Essen aus der Heimküche“ fuhr er fort. „Doch Erik, mein Freund, wurde sehr krank, und konnte nicht mehr beim Herrichten des Heimes helfen. Aber die Luft hier und das Meer waren gut für ihn, und ich wollte ihn ja auch an meiner Seite haben, solange es nur geht. Also saß er im Schaukelstuhl, und schaute uns zu, oder ging an den Nacktstrand, und legte sich unter einen großen Sonnenschirm, den ich extra für ihn dort aufgestellt hatte; übrigens genau an der Stelle, wo Tommi gesessen hat. Sobald ich mit der Arbeit fertig war, ging ich sofort zu ihm. Ich habe ihn mehr geliebt als alles Andere auf der Welt!“
Wieder eine lange Pause; dicke Tränen liefen Peer nun über die Wangen. Wir schluckten. Dann sprach er ganz leise weiter: „Es war bis zuletzt eine wunderschöne Zeit mit ihm – aber er starb vor knapp 2 Jahren. Dabei war er doch noch so jung, gerade mal 38!“ Peer drehte sich schnell von uns weg; wir sollten wohl nicht sehen, dass er weinte. Ein paar Minuten lang war es totenstill, nur das Meer rauschte leise – bis Peer sich auf einmal lautstark schnäuzte. Er hatte sich wieder einigermaßen beruhigt – wir schmunzelten. „Erik wurde hier auf der Insel begraben; das hatte er sich so gewünscht, bevor er starb, und Johannes hielt eine wundervolle die Grabrede; dabei hielt er die ganze Zeit meine Hand. Nur Wenige waren zu Eriks Beerdigung gekommen – seine und meine Eltern, die Mitarbeiter des Heims, und ein paar gute Freunde. Dann behielt Johannes mich bei sich – zunächst nur, um mir über diese schwere Zeit hinwegzuhelfen. Ich arbeitete für ihn als Hausmeister und „Mädchen für Alles““. Es tat mir unendlich gut, mich mit der Arbeit abzulenken, und ich konnte ja auch zwischendurch zu Eriks Grab gehen. Doch ich merkte schnell, dass ich ebenso wie Johannes viel mehr Spaß daran hatte, mich mit Kindern und Jugendlichen wie Euch zu beschäftigen, als irgendwo Glühlampen auszutauschen. Natürlich kümmerte ich mich auch weiter darum; aber immer öfter übernahm ich dann und wann eine Nachtwache – so wie heute –, baute mit unseren Ferienkindern Zelte auf oder richtete mit ihnen zusammen das Lagerfeuer für den Abend. Erst war auch Johannes noch ein wenig skeptisch – schließlich bin ich ja schwul-, doch dann ließ er mir immer größere Freiheiten – ich habe ihn noch bis heute noch nie enttäuscht, und würde es auch nicht tun!“
Nach einer weiteren ganz kurzen Pause schloss er: „Jetzt bin ich 41, und ich möchte hier nicht mehr weg; Noch immer arbeite ich gerne hier, und gehe auch immer noch regelmäßig zu Eriks Grab. Er war und ist mein einziger Freund, den ich sehr, sehr lieb hatte. Bis heute gab es für mich keinen anderen Menschen an meiner Seite! Wenn ich eines Tages sterben muss, möchte ich neben Erik begraben werden!“ Tommi und ich sahen uns an – und unsere Hände fanden sich wieder. Wir saßen hier nun schon bestimmt eine halbe Stunde oder noch länger – es wollte einfach nicht kühler werden. Aber er hatte Nachtwache, und musste dafür sorgen, dass wir genug Schlaf bekamen, damit wir am nächsten Tag wieder fit waren. Und so beendete er endgültig unser „heimliches“ Treffen mit den Worten: „Denkt immer daran: echte Freundschaft und innige Liebe sind etwas Wunderschönes! Haltet sie fest, solange es nur geht – egal, für wen ihr Euch entscheidet!“ Er schaute uns in die Augen, so, als ob er herauszufinden versuchte, ob wir verstanden haben, was er uns heute Nacht erzählt hat und was er uns damit sagen wollte. Wir hatten!
„So, ihr Bengel, jetzt aber ganz schnell zurück ins Camp und die Augen zu!“ schimpfte er schließlich mit uns; aber sein breites Grinsen war nicht zu übersehen. Noch immer nackt und Hand in Hand, liefen wir zurück zum Camp – erst kurz bevor wir dort ankamen, lösten wir uns voneinander, zogen die Hosen wieder an, schlichen ins Zelt und kletterten in die Feldbetten. Wir wussten, dass Peer nichts von unserem nächtlichen Ausflug erzählen würde….

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